Ein leerstehender Baumarkt direkt neben einem riesigen Supermarkt, Zweckbau, 1.800 Quadratmeter Platz und ein wenig einladendes Ambiente: Andere Kommunen sind froh, wenn sich jemand findet, der hier wieder Gewerbe ansiedelt und Steuern in die Kassen spült. Im estnischen Viimsi haben die Verantwortlichen so ziemlich das Gegenteil gemacht: Geld in die Hand genommen und die riesige Halle selbst ausgebaut, und zwar ausgerechnet zu einer Bibliothek. Und was für eine!
Annika Vaikla ist die Frau, die diese ungewöhnliche Idee hatte und gemeinsam mit Tiiu Valm, der Bibliotheksleiterin, innerhalb nicht mal eines Jahres umgesetzt hat. Annika ist eine Kollegin aus dem Kongress der Gemeinden und Regionen Europas und hat mir heute ihre Stadt gezeigt, die sie einige Jahre als Vizebürgermeisterin mitgestalten durfte. Viimsi hat gut 20.000 Einwohner*innen – die meisten arbeiten in der nahegelegenen estnischen Hauptstadt Tallin – und ist traumhaft gelegen, direkt am finnischen Meerbusen.
Und so hat Viimsi auch ziemlich viel Geld für eine vergleichsweise kleine Kommune. Die 600.000-Euro-Investition in eine neue Bibliothek war dennoch keine Selbstverständlichkeit. Bibliotheken sind tot, niemand liest mehr Bücher, und überhaupt: in einer Fabrikhalle?! Heute kann Annika Vaikla lachen über die Vorbehalte, die sie damals aus dem Weg räumen musste. Denn der Erfolg gibt ihr Recht, die Zahl der Nutzer*innen der Bibliothek geht steil nach oben.
Das liegt mit Sicherheit auch daran, dass es hier viel mehr gibt als Bücher: Statt eines Ortes, an dem Ruhe zu herrschen hat, ist die Bibliothek in Viimsi ein lebendiges Gemeinschaftszentrum mit unendlichen Möglichkeiten. Versammlungsräume unterschiedlicher Größen, jede Menge gemütliche Ecken, eine Chill-Out-Area im Freien, ein Jugendclub mit Kicker und Billardtisch im Obergeschoss, 3-D-Drucker und sogar je ein voll ausgestattetes Musik- und Videoaufnahmestudio stehen allen Menschen zur Verfügung. Örtliche Spiel- und Handarbeitsvereine treffen sich hier ebenso wie Kommunalpolitiker*innen und Flüchtlingshelfer*innen.
Und wer Ruhe haben will, kann sich in eine der vielen Boxen zurückziehen, die überall im Gebäude verteilt sind und ruhiges Lesen oder Arbeiten ermöglichen. Kurz vor Ausbruch der Pandemie eröffnet, hat die Bibliothek auch Schüler*innen oder Leuten im Home Office unverhofft Rückzugsräume im Lockdown bieten können.
Nahezu zeitgleich mit dieser bereits wagemutigen Investition hat Viimsi noch ein zweites Vorhaben gestemmt und sich ein Vielfaches kosten lassen: 15 Millionen Euro sind ins Viimsi Artium geflossen, das am 19. August mit einem Konzert der estnischen Philharmoniker und des Grammy-prämierten estnischen philharmonischen Kammerchors eröffnet wird.
Musik-, Kunst- und Wissenschaftsschule im Obergeschoss, mehrere Konzertsäle – der größte mit gut 450 Plätzen – im Erdgeschoss, eine offene Architektur mit viel Holz und Grünpflanzen, zu Kunstgalerien umgebaute Türme, die einst vom sowjetischen Militär genutzt wurden: Hier von einem ambitionierten Projekt zu sprechen, wäre untertrieben. Kühn und verwegen ist das, was hier aus dem Boden gestampft wurde.
Hier entwickelt sich kulturelles Leben, das weit über die Grenzen Viimsis und Tallins hinausstrahlen wird. Wer hat, der kann, heißt es – aber es braucht auch Mutige, die es wagen und anpacken. Was kommunale Investitionen in Bildung und Kultur angeht, setzt Viimsi nach meinem Eindruck europaweit Maßstäbe. Annika Vaikla gilt mein Dank für die Einladung und die ausgesprochen inspirierende Tour durch eine kleine Stadt, die Großes stemmt.