„Meine Kinder sind wie Ihre Kinder. Aber seit dem 24. Februar haben sie sich verändert. In weniger als drei Wochen haben sie gelernt, sich wie die Soldaten zu benehmen, wenn die Sirene geht: aufspringen, anziehen, in den Luftschutzkeller laufen.“
Seit fast einem Monat tobt der Krieg in der Ukraine, als Julia Vusenko diese Worte am Dienstag an uns Delegierte aus 46 europäischen Ländern im Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats (KGRE) in Straßburg richtet. Julia Vusenko vertritt – ebenso wie ich – ein Regionalparlament im KGRE: das der ukrainischen Region Volynska.
Neben ihr im Europapalast sitzt ihr kleiner Sohn. Die Delegation aus ihrem Land besteht zu dieser 42. KGRE-Plenarsitzung ausschließlich aus Frauen, mehrere von ihnen haben ihre Kinder mitgebracht. Ob und wann sie ihre Männer und Väter wiedersehen, die zur Verteidigung in der Ukraine geblieben sind, wissen sie nicht.
Wie so viele hat die Flucht Julia Vusenko und ihre Kinder zunächst nach Polen geführt. Eine der ersten Fragen, die die Kinder ihrer Mutter nach der Ankunft stellten, war, wo der Luftschutzkeller sei: „Wo müssen wir hin, wenn wir wieder die Sirene hören?“
„Herr Putin, Sie haben diesen Kindern das Recht genommen, zu leben wie Kinder, Sie haben ihnen ihr unbeschwertes Leben genommen“, ruft Julia Vusenko im Europapalast. Später wird eine polnische Delegierte von Geflüchteten berichten, die in ihrer Gemeinde aufgenommen wurden: „Ihre Kinder malen nur noch Panzer.“
Knapp 1.700 Kilometer Luftlinie entfernt sitzt Vitali Klitschko in einem geschützten Raum in Kyiv, der Hauptstadt der Ukraine, deren Bürgermeister er ist. Er berichtet uns per Video von der Frontlinie, von etlichen bereits komplett zerstörten Städten rund um Kyiv, von Tausenden Toten, von den Befestigungen, die sie errichtet haben – und von den Werten, die sie verteidigen: Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte. Es sind unsere gemeinsamen europäischen Werte, sagt Klitschko, und: „Wir werden uns niemals ergeben.“
Sein eindringlicher Appell, vereint zu stehen, zu helfen, politisch, wirtschaftlich und auch militärisch, geht ebenso unter die Haut wie die emotionalen Berichte der Delegierten vor Ort – und die Bilder zerstörter Wohnhäuser und ziviler Infrastruktur in der Ukraine, die Oleksiy Chernyshov in seiner Videobotschaft zeigt. Er ist der ukrainische Minister für die Entwicklung der Gemeinden und Regionen – und er hebt hervor, wie die Demokratie gerade auf lokaler und regionaler Ebene in seinem Heimatland in den vergangenen Jahren erstarkt ist.
„Local self government is a force throughout Europe“, sagt Chernyshov und wirbt um Zusammenhalt der Gemeinden und Regionen Europas: „Together we stand, divided we fall.“ Seine Hoffnung auf ein deutliches Signal aus dem Kongress wird sich eindrucksvoll erfüllen: Einstimmig, ohne Gegenstimme und ohne Enthaltung, verurteilt der KGRE Putins Angriffskrieg und fordert ihn zum Rückzug auf.
Doch was können wir noch tun? In meiner kurzen Rede habe ich betont: Wir als Kommunen und Regionen haben keine Waffen, wir haben keine Soldaten. Aber wir haben unsere Stimmen und unsere Herzen, mit denen wir unsere europäischen Werte verteidigen. Den Kampf um Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte können wir nur gemeinsam gewinnen!
Ob es die vielen größtenteils ehrenamtlich organisierten humanitären Hilfstransporte sind oder die Unterstützung der Geflüchteten hier vor Ort, ob es journalistische Arbeit gegen Putins Propagandaschlacht ist oder der Aufbau von Partnerschaften in die Ukraine zum Wiederaufbau: Wir können auf lokaler und regionaler Ebene aktiv werden und den Solidaritätsbekundungen Taten folgen lassen. Eine Aktion, von der ich beim KGRE erfahren habe, ist die „Operation Schneeflocke“ aus Österreich: Die Idee ist, mit Briefen, die europäische Kommunalpolitiker*innen direkt an ihre russischen Kolleg*innen richten, die öffentliche Debatte in Russland zu verändern, von der lokalen Ebene aus. Diese Idee möchte ich gerne weitertragen!
„Operation Schneeflocke“ auf den Seiten des österreichischen Gemeindebundes